Am 16. Oktober 2025 um 19:00 h hielt Dr. Sigrid Vogel im Museum im Ritterhaus in Osterode am Harz einen Vortrag über Flucht und Neuanfang einer Familie aus Niederschlesien nach dem Zweiten Weltkrieg.
Osterode am Harz ist nach dem Krieg ein Ort, der viele Flüchtlinge aufnahm. Gemäß der Zusammenstellung FD1 47 34 51 des Stadtarchivs Osterode am Harz stammt die größte Gruppe der Geflüchteten und Vertriebenen aus Schlesien, gefolgt von Ostpreußen und Pommern. Der Haushalt des Jahres 1953 geht von 6511 deutschen Flüchtlingen aus. Das entspricht etwa 40% der damaligen Einwohnerzahl der Stadt.
Auf der Flucht zeichnet der Großvater Sigrid Vogels, Bernhard Schulz, Volksschullehrer einer einklassigen Schule in Koslitz, Kreis Lüben, die Kriegs- und Fluchterlebnisse seiner Familie auf. Auch die Mutter Dorothea Krumbiegel schreibt Tagebuch. Beide Geschichtszeugnisse sind erhalten und befinden sich mit dem in diesem Zusammenhang entstandenen Buch „Epigenetik braucht Geschichte. Wohin, wenn man nicht bleiben kann?“ (2023) im „Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ in Berlin.
Sigrid Vogel transkribierte die Aufzeichnungen und versah das Niedergeschriebene mit Erläuterungen. Sie recherchierte den Wahrheitsgehalt des Beschriebenen und kommentierte ihn. In einem Nachwort ordnete sie die persönliche Bedeutung der Ereignisse ein und veröffentlichte während der Corona-Epidemie das Buch im Selbstverlag. Ein Exemplar des Buchs wird im Stadtarchiv Osterode am Harz aufbewahrt. Es zeigt anhand der erlebten Alltagsgeschichte einer Familie die allgemeine politische und gesellschaftliche Lage der Zeit von 1939 bis in die frühen 50er Jahre auf.
Der Titel des Vortrags „Wohin, wenn man nicht bleiben kann“ ist der Untertitel des Buchs. Er verweist auf die wiederholten Fluchtbewegungen der Familie, erst in die nähere Umgebung des Dorfes Koslitz, dann in das Sudetenland nach Graslitz, weiter in die Gegend um Hirschberg, schließlich in den Harz. Immer wieder mussten die Familienmitglieder, sei es durch Anordnungen oder aber wegen persönlicher Umstände, von den Orten, wo sie vorübergehend eine Bleibe gefunden hatten, aufbrechen. Sich verlieren, sich wiederfinden, sich irgendwie abfinden begleitet ihr Weggehen aus der Heimat. Sie müssen flüchten und sie werden vertrieben. Die Aufzeichnungen dokumentieren nicht nur Gewalt, Grausam- und Herzlosigkeiten im Krieg, sondern auch das Zusammenleben der Geflüchteten mit den zugewanderten Polen in dem von Polen verwalteten Gebiet in Hohenliebenthal bei Hirschberg. Von hier wurde die Familie im Juni 1946 ausgewiesen und kam über Uelzen, eine der damaligen Drehscheiben, die für die Verteilung von Vertriebenen auf die Besatzungszonen zuständig war, zunächst nach Osterode, dann nach Bad Lauterberg ins Lager. Als die Familie im Juli 1946 schließlich im Südharz ankommt, muss sie sich, wie viele andere Flüchtlinge und Vertriebene auch, in die Gegebenheiten einfinden und ein neues Leben aufbauen.
Wie sich die Schicksale von Flüchtlingen ähneln, beweist eine Erhebung von 2023, die Sigrid Vogel unter den Abiturienten der Klasse 13 na zum 60jährigen Abitur am ehemaligen Gymnasium Osterode, durchführte. Die Klassenkameraden hatten einen umfangreichen Fragebogen beantwortet. Dabei stellte sich heraus, dass von den 16 Abiturienten nur 2 Einheimische waren, alle anderen kamen aus östlichen Gebieten.
Die Fluchtbewegungen hatten die Mütter, Großmütter und Großeltern unternommen. Bei Verwandten weiter im Westen hatte man versucht unterzukommen. Für zwei Schülerinnen bestand allerdings diese Möglichkeit nicht. Sie lebten für kurze Zeit im Lager (Osterode, Bad Lauterberg). Charakteristisch für die frühe Kindheit der Geflüchteten war die Abwesenheit der Väter, die für den Krieg eingezogen worden waren, dann in Gefangenschaft gerieten oder gefallen waren, d.h. die Kinder wurden vorwiegend weiblich sozialisiert. Für die Mütter gab es eine Zeit der Ungewissheit, bestimmt durch die „Ohnmacht des Wartens“ (Marguerite Duras). Für die heimkehrenden Väter wiederum war es eine große Herausforderung, in der Gesellschaft und dem Arbeitsleben Fuß zu fassen. Das bedeutete für manche Familien beengte Wohnverhältnisse, Hunger, Armut.
Aus der Beantwortung der Fragebögen geht auch hervor, dass sich der jeweilige Start ins Leben in Langzeit-Nachwirkungen niederschlug, wie z.B. der Drang zu besonderer Sparsamkeit oder aufkommende Angst bei Sirenengeheul. Trotzdem blicken alle ehemaligen Abiturienten auf eine glückliche und zufriedene Kindheit und Jugend zurück. Das Sich-Einfinden der Ankömmlinge in das neue Leben war also gelungen. Dieser Prozess war vermutlich eine Mischung aus individueller, familiärer Anpassung an bestehende Verhältnisse einerseits und der Bereitwilligkeit der Ansässigen sie aufzunehmen andererseits.
Nur bei zwei „Schlesierinnen“ spielte die Bewahrung des heimatlichen Brauchtums eine Rolle. Bei der einen war es der Großvater, bei der anderen der Vater, die überzeugt waren, man könne wieder in die Heimat zurückkehren. Diese Hoffnung wurde durch die offizielle Politik der Adenauer-Jahre durch die Partei GB/BHE (Gesamtdeutscher Block/Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten) bis 1961 genährt.
Im Vortrag ergänzte Sigrid Vogel die Darstellung der historischen Ereignisse durch Bilder zweier „Reisen in die Vergangenheit“ (2023 und 2024). Die Kinder und Enkel hatten sich zum besseren Verständnis gewünscht, mit ihr Stätten der Flucht aufzusuchen.
Abschließend wurde die Frage geklärt, ob denn die Vortragende einen „Migrations-hintergrund“ habe. Der Begriff wurde zum ersten Mal 2005 von Frau Boos-Nünning in Anlehnung an die amerikanische Bezeichnung migration background verwendet. Sie hatte in Untersuchungen festgestellt, dass Nachkommen von Eingewanderten vom Statistischen Bundesamt nicht besonders erfasst wurden. Der Begriff fand Eingang in dessen Berechnungen. Explizit zählt es Deutsche und ihre Nachkommen, die bis 1949 zugewandert sind, nicht als Personen mit Migrationshintergrund, gemeint sind die Geflüchteten und Vertriebenen des Zweiten Weltkrieges, die im heutigen Ausland lebten.
Im Jahr 1939 hatte Osterode etwa 9.000 Einwohner. Zehn Jahre später lebten gut 16.000 Menschen in der Stadt. Die meisten der neuen Einwohner stammten aus Ostpreußen, Pommern, Brandenburg und vor allem aus Schlesien. Hinter diesen Zahlen verbergen sich menschliche Schicksale, die im Vortrag am Beispiel einer Familie beleuchtet werden. So nimmt Dr. Sigrid Vogel die Flucht ihrer Familie am Ende des Zweiten Weltkrieges aus Niederschlesien nach Osterode und Bad Lauterberg in den Blick. Sich verlieren, sich wiederfinden, sich irgendwie abfinden – all das begleitet das Weggehen aus der Heimat.
Als die Familie 1946 schließlich im Harz ankommt, muss sie sich, wie viele andere Flüchtlinge und Vertriebene auch, in die Gegebenheiten einfinden und ein neues Leben aufbauen. Auch eine Erhebung unter den ehemaligen Abiturienten des Osteroder Gymnasiums zeigt, wie sehr sich die Schicksale der Vertriebenen ähneln.